Einladung, deutlich zu denken
Franz Slawik+
‚Ich glaube an den Menschen, und das heisst, ich glaube an seine Vernunft.'
(Bert Brecht, Leben des Galilei)
Es ist eine sehr dialektische Formel, die der bekannte Soziologe Ernst Gehmacher fuer die heutige Jugend in oesterreich gefunden hat: die unberechenbare Generation.
Das ist nicht Zynismus und nichts weniger als ein Vorwurf; im Gegenteil: Berechenbarkeit ist das letzte, was man von einem jungen Menschen erhoffen moechte. Denn Einfalt ist kalkulierbar; die stereotypen Verhaltensmuster, in denen Dummheit reagiert, machen sie berechenbar, waehrend die Intelligenz immer neue Antworten auf wechselnde Situationen sucht und findet. Und geradezu unheimlich ist jene Spielart von Berechenbarkeit, deren Geist schon in der Jugend nichts als eine Summe fester, unveraenderter Meinungen ist, diese zu frueh Fertigen, diese l8jaehrigen Greise; aber die sind, Gott sei Dank, sehr selten.
Sie ist also kein Vorwurf, diese Etikette der Unberechenbarkeit, andererseits aber auch nicht unproblematisch. Nicht nur Dummheit naemlich, auch Charakterfestigkeit ist in gewissem Masse kalkulierbar. Die Verlaesslichkeit eines Menschen, der sich in Schwierigkeiten bewaehrt hat, die berechtigte Zuversicht, mit der wir auf seine Hilfe warten, wenn wir sie brauchen, kennzeichnen eine Stabilitaet des Verhaltens, die wir schaetzen.
Die Formel von der unberechenbaren Generation spiegelt, wenn sie richtig ist, eine Widerspruechlichkeit und Ambivalenz, die als Riss durch unser Jahrhundert geht und die schon die Konzeption des Romans ‚Der Mann ohne Eigenschaften' und den Charakter seiner Hauptgestalt, Ulrich, bestimmt: ‚Darum zoegert er, aus sich etwas zu machen; ein Charakter, ein Beruf, eine feste Wesensart, das sind fuer ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm uebrigbleiben soll.' Eine Generation ohne Eigenschaften also?
Zwar sind wir immer auf dem Weg zu uns selbst, unterwegs zu jener Einheit des Bewusstseins, die aus uns ein unverwechselbares Individuum macht, jener Ich- Identitaet, von der die Psychologen sprechen und die von uns nur allmaehlich erworben wird. Eine unsichere Sache bleibt sie auch dann noch, flexibel, in einem zitternden Gleichgewicht, stets gefaehrdet, und die Jugend ist diesen Weg erst ein Stueck gegangen, seine Kontinuitaet muss an dieser Stelle noch viel bruechiger sein als spaeter, bruechig nicht zuletzt durch Triebschicksale und Reifungskrisen. Mit diesen Einschraenkungen - sei's drum: Generation ohne Eigenschaften.
Vor diesem Hintergrund bietet die Fuelle empirischen Materials, die Gehmacher vor uns ausbreitet, jedenfalls Anlass genug, sich mit den Ergebnissen kritisch zu beschaeftigen und Schluesse daraus zu ziehen, zumal das Buch fuer Jugendliche, Eltern, Lehrer, Politiker, Fachwissenschaftler, linke Intellektuelle, Gebildete und Bildungssuechtige geschrieben ist. Die folgenden ueberlegungen koennen die Lektuere des Werkes nicht ersetzen, sie sind auch keine Rezension, sondern greifen einige wenige Ergebnisse, die mir besonders wesentlich erscheinen, heraus und machen sich darueber Gedanken. Das erscheint notwendig, wenn man das Buch nicht kommentarlos zur Kenntnis nehmen und zur Tagesordnung uebergehen oder einfach Meinung gegen Meinung setzen will, ohne das Fuer und Wider genauer zu begruenden.
Wie notwendig das ist, zeigt eine gescheite Besprechung, deren Autor das Buch ‚trotz der Kritik mit grosser Freude gelesen’ hat. Einer seiner kritischen Einwaende ist so formuliert: ‚Intelligenz scheint mir fuer die kuenftige Entwicklung der Menschheit keineswegs, wie du andeutest, das wichtigste, hervorragendste Persoenlichkeitsmerkmal des ‚neuen Menschen' zu sein. Ich fuer meinen Teil glaube, dass Waerme, Zuwendung, Vertrauen wichtigere Eigenschaften sind, als recht gescheit zu sein.’ Die Kinder, sie hoeren es gerne, moechte man mit dem Herrn Geheimrat aus Weimar ausrufen, dessen 150. Todestag die Gescheiten heuer begehen, und zwar mit Recht, wie mir scheint. Aber muessen sie wegen dieser und natuerlich auch anderer Gescheitheit wirklich der Waerme, der Zuwendung,des Vertrauens entbehren? Ist es wirklich notwendig, Liebe und Geist gegeneinander auszuspielen? Oder hat nicht der Dichter des Romans ‚Der Mann ohne Eigenschaften’ dieser Generation ohne Eigenschaften doch etwas zu sagen, wenn er schreibt: ‚Wir plaerren fuer das Gefuehl gegen den Intellekt und vergessen, dass Gefuehl ohne diesen - abgesehen von Ausnahmefaellen - eine Sache so dick wie ein Mops ist.?’
Nun muss die Entwicklung zur Ich-Identitaet vor diesem Hintergrund gesehen werden. Und hier kommen die Wissenschaften, und zwar so verschiedene Theorietraditionen wie die analytische Ich-Psychologie, die Entwicklungspsychologie und die Handlungstheorie, uebereinstimmend zu der Erkenntnis: Die Sprach- und Handlungsfaehigkeit des Erwachsenen ist das Ergebnis eines Reifungs- und Lernprozesses, in dem es zu einem Zusammenspiel von kognitiver Faehigkeit, sprachlicher Ausdrucksfaehigkeit und Gefuehlsreife kommen muss, damit jene ‚interaktive Kompetenz’, d. h. die Faehigkeit, an Handlungen und Diskursen teilzunehmen, entsteht, die fuer das Funktionieren einer Gemeinschaft Voraussetzung ist. In diesem Kontext gewinnt natuerlich der von Gehmacher festgestellte ‚Hang zur Emotionalitaet’ seinen spezifischen Stellenwert. Der Autor fuehrt ihn auf ‚die starke Ausdehnung rational ausgerichteter Bildung’ und ‚auf das Dominieren rational geplanter Grossorganisationen’ zurueck, er sieht aber durch die ‚Rueckbestimmung auf die emotionalen Wurzeln des Individuums’ in keiner Weise den ‚Primat der Rationalitaet’ in Wissenschaft, Technik und Organisation in Frage gestellt. Gerade das aber duerfte jenen oben zitierten Einwand provoziert haben, der nun sozusagen einen Primat der Emotionalitaet fordert.
Nun liesse sich an dieser Stelle der Diskussion das Fuer und Wider noch eine Zeitlang fortsetzen. Denn natuerlich ist gegen das Vertrauen in die Kraft der Liebe grundsaetzlich nichts einzuwenden. Andererseits ist der Mensch ein fragendes Wesen, und es ist ja wohl mehr als ein Zufall, dass das Christentum als Religion der Liebe eine der differenziertesten Theologien, also eine Wissenschaft, entwickelt hat. Die Frage nach der Rationalitaet stellt sich der Jugend jedenfalls auch dann, wenn sie Emotionalitaet vorzieht, und da Rationalitaet diese Welt praegt, wird sie sich damit auseinandersetzen muessen.
Dass Rationalitaet in Verruf kommt, ist nicht neu. Jeder Gymnasiast lernt, dass die Sturm-und-Drang-Bewegung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts gegen die Vernunftglaeubigkeit der Aufklaerung revoltiert hat, und auch die Emotionalitaet unserer Tage reiht sich in die Tradition der Revolten gegen die Rationalitaet ein, wenn auch mit ganz spezifischen Vorzeichen. Es ist naemlich nicht Rationalitaet schlechthin, die heute zur Diskussion steht, sondern ganz bestimmte geschichtliche Auspraegungen, und ein Protest, der sich auf die Formel des jungen Goethe ‚Gefuehl ist alles!’ reduzieren liesse, wuerde sich zugleich aus der Geschichte abmelden. Er haette naemlich nicht nur die Chance der Nachgeborenen verspielt, eine Epoche besser zu verstehen, als sie sich selbst verstehen konnte, sondern vor allem die Chance, Verbuendete zu gewinnen. Misstrauen gegen Rationalitaet ist heute naemlich nicht auf die Jugend beschraenkt, sondern findet sich sogar dort, wo man das Zentrum der Rationalitaet vermuten wuerde, naemlich in der Wissenschaft. Dieser scheinbare Widerspruch in sich bedarf freilich einiger ueberlegungen.
Zunaechst muss klar sein, dass Rationalitaet wesentlich zum Begriff des menschlichen Handelns gehoert. Handeln bedeutet die denkende, reflektierende, freie Auswahl von Moeglichkeiten und ihre Verwirklichung in so eminentem Mass, dass diese Freiheit sogar zur Gefahr, naemlich zu der Versuchung werden kann, vor lauter Reflektieren, ueberlegen und Abwaegen von Moeglichkeiten gar nicht zum Handeln zu kommen. Dieses blosse Kreisen der Reflexion in sich, diese negative Freiheit, die sich nicht festlegen will, bezeichnet das Problem des ‚Mannes ohne Eigenschaften’, ist aber auch die Versuchung Wallensteins in Schillers Drama, mit den Moeglichkeiten zu spielen (‚Die Freiheit reizte mich und das Vermoegen’), und spricht sich schliesslich in der Einsicht Rudolfs in Grillparzers ‚Bruderzwist’ aus: ‚Mathias herrsche denn. Er lerne fuehlen / dass Tadeln leicht und Besserwissen trueglich, / da es mit bunten Moeglichkeiten spielt; / doch Handeln schwer, als eine Wirklichkeit, / die stimmen soll zum Kreis der Wirklichkeiten.’ Handeln ist sinnvoll nur zu begreifen als ‚motiviertes’ (ueber die Reflexion gegangenes) Tun, wenn es mehr sein soll als blosser Naturablauf. Das handelnde Ich muss die Vielfalt der Wirklichkeit, der es jeweils gegenuebersteht, distanzieren und kann sich durch keine Bestimmtheit fixieren lassen; es muss aber diese Distanz aufgeben, ein Motiv bejahen und in Wirklichkeit umsetzen. Beide Momente sind ihm wesentlich. Mit diesem Moment der Reflexion, des ueberlegens, des Auswaehlens kommt das Denken, kommt Rationalitaet zum Zug; sie negieren heisst ueber den eigenen Schatten springen wollen.
Eine andere Frage ist es freilich, ob sich innerhalb dieser Rationalitaet nicht sinnvoll differenzieren laesst. Geht man davon aus, dass die menschliche Existenz sich in einer spezifischen Spannung von Theorie und Praxis vollzieht, dann lassen sich im Anschluss an die Philosophie Erich Heintels drei Praxisbegriffe unterscheiden: die Anwendung, das Teilexperiment und das Totalexperiment. Im Anwendungsverhaeltnis von Theorie und Praxis werden Resultate der Wissenschaft fuer Ziele des Menschen nutzbar gemacht, das Teilexperiment ist im Zusammenhang mit dem Daseinssinn und seiner Verwirklichung dadurch definiert, dass es sich ‚innerhalb des im eigentlichen Sinn Verfuegbaren’ vollzieht, beim Totalexperiment steht das Handeln im Zeichen der Unverfuegbarkeit, es bewegt sich im Bereich dessen, was Glauben heisst.
Das Misstrauen der Jugend wendet sich heute vor allem gegen die Rationalitaet auf der Ebene der Anwendung und zwar vor allem gegen ihre Folgen. Anders naemlich als die ‚skeptische Generation’ der Nachkriegszeit, deren Nuechternheit sich vor allem gegen alles Emotionale richtete und die sich das Heil von der modernen Wissenschaft erwartete, misstraut sie der Gleichsetzung von technischem und menschlichem Fortschritt. Der Satz ‚Gescheitsein fuehrt zur Bombe’ ist vielleicht ueberpointiert, drueckt aber die heutige Grundstimmung vermutlich richtig aus. Und es sind nicht die Schrecken einer technisierten Welt und die Angst davor, welche die junge von der aelteren Generation trennt, im Gegenteil: hier ist der Bereich, wo sich beide treffen, wo sie Verbuendete werden koennen. Zu deutlich naemlich zeichnen sich Grenzen nicht nur des Wachstums ab, zu drohend ist bereits das dumpfe Grollen, das die Erdbeben ankuendigt, welche kommen werden, wie Brecht es formuliert hat, als dass man sich beruhigt zuruecklehnen und hoffen koennte, dass einem die Virginia nicht ausgeht.
Viel heimlicher aber ist eine andere Gefahr, die aus der wissenschaftlich-technischen Rationalitaet erwaechst, heimlicher, schwerer zu erkennen, doch um nichts weniger gefaehrlich. Das scheint zunaechst uebertrieben, denn was sollte fuerchterlicher sein als die Bombe? Wer aber, so ist zurueckzufragen, entscheidet, ob Bomben gebaut, ob sie gezuendet werden?
Damit aber gewinnt in einer Zeit der overkillcapacity alles, was das menschliche Handeln, was Willensbildung, Diskussion und Entscheidung betrifft, eine Dimension, die es frueher nicht hatte, und alles, was die Strukturen der Kommunikation verzerrt, kann in seinen Folgen auch das Antlitz dieser Erde zur Fratze verzerren oder zerstoeren.
Zunaechst tritt sie noch erkennbar als Herrschaft der Technik auf. Die Literatur hat dieses Motiv ziemlich frueh aufgegriffen; Aldons Huxley stellt Anfang der 60iger Jahre in einer Abhandlung unter dem Titel ‚Literature and Sience’ der sozialen Lebenswelt, in der die Menschen lieben und hassen, Triumph und Erniedrigung, Dummheit und Weisheit erleben, die Welt der Wissenschaft als eine stumme Welt quantifizierter Regelmaessigkeiten gegenueber, die ‚mittels ihres Wissens von dem, was in einer unerlebten Welt der Abstraktion und der Schlussfolgerungen geschieht, ihre ungeheure und zunehmende Macht erwarb, die Welt zu lenken und abzuaendern, in welcher zu leben die Menschen bevorrechtet und verurteilt sind’.
Die Pointe dieser Entwicklung verraten aber erst die Untersuchungen, die J. Habermas Ende der 6oiger Jahre vorgelegt hat. Er geht von jenem Begriff der Rationalitaet aus, den Max Weber in den 2oiger Jahren in die Sozialwissenschaften eingefuehrt hat, um die Ausdehnung jener gesellschaftlichen Bereiche zu bbestimmen, in die unter dem Titel ‚Rationalisierung’ Formen des wissenschaftlichen und technischen Denkens eindringen. Da sich Rationalitaet dieser Art nur mehr auf die angemessene Art der Anwendung von Technologien und die zweckmaessige Einrichtung von Systemen erstreckt,entziehen sich die Ziele dieser Entwicklung jeder Reflexion. Da technische Vernunft aber Herrschaft ist, zunaechst Herrschaft ueber Natur und Ausuebung von Kontrolle, und da bei unbefragt gesetzten Zielen in gegebenen Situationen jede Diskussion mit dem Hinweis auf Sachzwaenge abgeschnitten werden kann, setzt sich im Namen der Rationaltitaet eine Form uneingestandener politischer Herrschaft durch.
J. Habermas begreift dies mit H. Marcuse als das welthistorisch Neue. Um das Gespinst zu zerreissen, welches den politischen Inhalt technischer Vernunft verschleiert, stellt er dieser ‚instrumentellen’ Rationalitaet, welche zur Manipulation von Dingen und Ereignissen Mittel organisiert und Ablaeufe kontrolliert, den Begriff der kommunikativen Rationalitaet gegenueber, die den Verstaendigungsprozess zwischen Menschen, als mindestens zwei handelnden Subjekten, bestimmt. Sie setzt u. a. die gegenseitige Anerkennung der Subjekte und den Bezug auf gesellschaftliche Normen voraus, die verinnerlicht werden und in die Persoenlichkeitsstrukturen eingehen, waehrend instrumentelle Rationalitaet ihrem Wesen nach ‚monogolisch’ von nur einem Subjekt ausgeht, unter technischen Regeln steht und den Menschen mit Fertigkeiten ausstattet.
Projizieren wir den so gewonnenen Begriff der kommunikativen Rationalitaet auf die Bereiche menschlicher Praxis zurueck, wie wir sie im Anschluss an Erich Heintel unterschieden haben, dann gewinnt manches, was wir ueber Jugend, Emotionalitaet und Rationalitaet ueberlegt haben, neue Kontur. Deutlich treten die Grenzen und Gefahren der technischen (instrumentellen) Rationalitaet hervor, ebenso deutlich aber wird auch jenseits dieser Grenzen ein Bereich menschlichen Handelns, der eine andere Art Rationalitaet verlangt. Es ist eine Rationalitaet des Diskurses, des Gespraechs, der argumentativen Begegnung, kurz, der praktischen Vernunft, um mit Kant zu sprechen, der mit der Formulierung des ‚kategorischen Imprerativs’, besonders deutlich in der 3. Fassung, auch zugleich die Verpflichtung zum Diskurs begruendet hat: ‚Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst.’
Eine Gemeinschaft, die diesem Anspruch an Humanitaet gerecht werden soll, muss daher eine Gemeinschaft von Argumentierenden sein: ‚Wer argumentiert, der anerkennt implizit alle moeglichen Ansprueche aller Mitglieder der Argumentationsgemeinschaft, die durch vernuenftige Argumente gerechtfertigt werden koennen.’ Und dass die so verstandene Rationalitaet keineswegs eine wirklichkeitsfremde Ideologie ist, die im Menschen ein Gespenst ohne Leib und ohne Gefuehle sieht, zeigt die folgende ueberlegung: ‚Menschliche Beduerfnisse sind als interpersonal kommunizierbare ,Ansprueche' ethisch relevant; sie sind anzuerkennen, sofern die durch Argumente interpersonal gerechtfertigt werden koennen.’
Dabei setzt, wer argumentiert, immer schon zweierlei voraus: eine reale Kommunikationsgemeinschaft, deren Mitglied er durch die Bildung seiner Ich-Identitaet im Laufe seiner Entwicklung (seines Sozialisationsprozesses) geworden ist, und eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, die grundsaetzlich imstande waere, seine Argumente wirklich zu verstehen und ihre Wahrheit zu beurteilen. Auch wenn er weiss, dass dies in der Realitaet aus den verschiedensten Gruenden nicht erreicht wird, hat er es als Ziel notwendigerweise vor Augen. Vor dem Hintergrund der heutigen weltgeschichtlichen Situation mit dem groessten Vernichtungspotential aller Zeit lassen sich zwei Forderungen fuer eine langfristige moralische Handelnsstrategie ableiten: das ueberleben der menschlichen Gattung als realer Kommunikationsgemeinschaft und die Verwirklichung der idealen Kommunikationsgemeinschaft. Anders gesagt: ‚Die ueberlebensstrategie erhaelt ihren Sinn durch eine langfristige Emanzipationsstrategie.’
Rationalitaet ist nicht gefragt, Gescheitsein fuehrt zur Bombe. Vielleicht haben die vorangegangenen ueberlegungen kommunikative Rationalitaet als eine Form des Gescheitseins ausgewiesen, die die Bombe verhindern kann. Sie bedarf freilich des Trainings, praktische Diskurse muessen nicht weniger geuebt werden als der Erwerb von Wissen nach traditionellen Bildungsmustern. Ich gehe davon aus, dass immer mehr Lehrer sowohl den Willen als auch das methodische Wissen und Koennen als Trainer mitbringen, ich unterstelle weiters, dass die Jugend heute in vielfaeltiger Weise zum Diskurs herausgefordert wird und auch von sich aus energisch danach verlangt, ich schliesse aus diesen beiden Voraussetzungen, zu denen natuerlich viel zu ueberlegen waere, dass die Chance zu Diskursfaehigkeit heute nicht schlecht ist. Aus diesen Gruenden moechte ich, bei der raeumlichen Begrenztheit dieser Arbeit, mich auf einige Schwierigkeiten und Gefaehrdungen konzentrieren, von denen die Entwicklung der ueberlebensnotwendigen kommunikativen Rationalitaet bedroht ist, nicht zuletzt von jener Jugend selbst, deren Zukunft auf dem Spiel steht. Ich uebergehe dabei die Gefahr, die von dem ‚halbierten Rationalismus’ (J. Habermas) des Neopositivismus droht, weil seine motivierende Kraft fuer die junge Generation gering ist, ich koennte mir schon eine etwas staerkere Anziehung von einem Konservativismus vorstellen, der unter ‚Beschwoerung fiktiv gewordener Tatbestaende’ gegen ‚Erscheinungsformen des politischen ‚Rationalismus’ zu Felde zieht’, weil mir die Aussagen der empirischen Daten widerspruechlich zu sein scheinen und weil Gehmacher als Beleg gegen die Nostalgiewelle eine Innovationsfreudigkeit anfuehrt, die er mit den Worten der Alice im Wunderland illustriert: ‚Bei uns muss man ganz schnell laufen, damit man am selben Fleck bleibt.’ Das aber koennte durchaus von einer Position ‚instrumenteller Vernunft’ aus gesagt sein, die das Heil der Menschheit im technischen Fortschritt sieht und damit allen Gefahren ausgesetzt ist, die im ersten Teil dieser Arbeit dargestellt wurden.
Widersteht man der Versuchung des Pathos, dem Reiz der alten Bilder von den Bluetentraeumen, von der Morgenroete des Lebens, dann muss man der Jugend sagen, dass dies die Situation unserer, ihrer Zeit ist. Dann muss man ihr klarmachen, dass es keinen Rueckzug aus der Geschichte gibt, keine Flucht in welche Droge auch immer, und heisse sie nun Romantik, Utopie oder Grosse Weigerung, dass man ‚seiner Zeit nur den Ruecken zu kehren oder sich angeblich nur ueber sie zu erheben braucht, um von ihr uebertoelpelt zu werden, und dass man seine Zeit nicht durch eine Flucht transzendiert, sondern dass man sie annimmt, um sie zu veraendern’ wie Jean Paul Sartre es ausgedrueckt hat.
Daher waere auch ein Rueckzug aus der ‚instrumentellen Rationalitaet’ eine fatale Konsequenz: technische Vernunft ist notwendig, wenn die Menschheit in einer Zeit der Bevoelkerungsexplosion und der Verknappung der natuerlichen Ressourcen ueberleben soll. Eine Verteufelung der Technologie waere ebenso naiv wie der blinde Glaube daran; worum es geht, ist, ihre Grenzen zu sehen und die Gefahren, die in einer unkontrollierten Weiterentwicklung und in der skrupellosen Ausbeutung aller Ressourcen liegen, worum es geht, ist, ihre Erkenntnisse in den vorwissenschaftlichen Horizont der Erfahrung und der Entscheidungen einzuholen und ein heimliches Eindringen technischen Verfuegungsdenkens in gesellschaftliche Strukturen und damit ein Verschleiern von Herrschaftsverhaeltnissen zu verhindern. Das erfordert eine zuverlaessige uebersetzung technischen Wissens in die Sprache des Handelns und der Politik und setzt einen anderen Typ von Wissenschaftlern voraus als die, welche Brechts Galilei mit dem Bild von dem Geschlecht erfinderischer Zwerge, die fuer alles gemietet werden koennen, kritisiert hat. Es verlangt zugleich die geistige und moralische Anstrengung aller an der politischen Entscheidung Beteiligten, soll nicht der ‚Umgang mit den Produkten angespannter Rationalitaet auf naive Weise’ erfolgen und letztlich ‚infantil’ bleiben. Dies aber bestaetigt letztlich nur die Einsicht, dass Vernunft den Willen zur Vernunft voraussetzt.
Gefaehrlich ist auch die lautlose Aufloesung von Rationalitaet in verschiedenen sektiererischen Formen von Mystik, Intuition und Irrationalismus. Sie mag verstaendlich sein angesichts der Emotionsfeindlichkeit, Kaelte und Undurchdringlichkeit einer technisierten Zivilisation, die den Menschen verdinglicht und unter das Diktat des Leistungswettbewerbs und einer oft entfremdeten Berufsarbeit stellt; ob die Parole einer ‚Neuen Unmittelbarkeit’ die Zwaenge dieser durch und durch technisch vermittelten Welt aufzuloesen vermag, ist nicht einmal mehr fraglich. Sie laesst alle Welt, wie sie ist, und sucht sich eine Nische der Geborgenheit. Wer diese Gesellschaft aber wirklich verbessern will, darf an einer Erfahrung dieses Jahrhunderts nicht vorbeigehen: »Dass die Kaelte der rationalisierten Welt nicht durch empfohlene Irrationalitaet sich bannen laesst, ist eine gesellschaftliche Wahrheit, die durch den Faschismus aufs nachdruecklichste demonstriert worden ist. Durch ein Mehr, nicht durch ein Weniger an Vernunft lassen die Wunden sich heilen, welche das Werkzeug Vernunft im unvernuenftigen Ganzen der Menschheit schlaegt.
Sowenig also Flucht etwas nuetzt, so wenig veraendert auch ein sinnloses Anrennen etwas. Sicherlich erleben wir alle, und besonders empfindlich der junge Mensch, Institutionen heute oft als Repression, als Unterdrueckung und Einschraenkung. Sicherlich kann man die Institutionen nicht mit A. Gehlen einfach als Ersatz fuer die beim Menschen als dem ‚nicht festgestellten Tier’ fehlende Sinnorientierung und Verhaltensstabilisierung sehen und naiv als Allheilmittel gegen die Gefahren des fortschreitenden Individualismus und der damit wachsenden Gefaehrdung und Schutzlosigkeit der Ich-Identitaet.
Wenn Humanitaet die Kuehnheit bedeutet, ‚die uns am Ende uebrigbleibt, nachdem wir eingesehen haben, dass den Gefaehrdungen einer universalen Zerbrechlichkeit allein das gefahrvolle Mittel zerbrechlicher Kommunikation selber widerstehen kann’, dann ist damit wieder die Ebene kommunikativer Rationalitaet erreicht und die Demokratie als Institution im Sinn der Humanitaet ausgewiesen, weil sie die ‚partielle Auffindung’ der Wahrheit ‚unter den Bedingungen der Endlichkeit jedem einzelnen Menschen als Gespraechspartner zutraut’. Kein blindes Anrennen gegen Institutionen ist daher die Loesung, nicht das trotzige Aufbegehren der Anouilhschen Antigone: ‚Ich bin nicht dazu da, um zu verstehen. Ich muss nein sagen und sterben.’, welches in die zu spaete Erkenntnis muendet: ‚Ich weiss nicht mehr, wofuer ich sterbe’, sondern jene Beharrlichkeit, die sowohl das Verstehen als auch die Kritik und damit nicht die Zerstoerung, sondern die Veraenderung dieser Gesellschaft und ihrer Institutionen bedeutet. Ein blosses ‚Hinausphantasieren auf kuenftige Formen der Freiheit ohne klares Bewusstsein der historisch bereits existierenden Formen der Freiheit kann immer zu einer abstrakten Negation des Bestehenden fuehren und entspricht letztlich auch den strengen Massstaeben nicht, die durch die Marxsche Theorie selbst gesetzt sind.’. (Dass diese Stelle einem Aufsatz ueber ‚Terrorismus und Gesellschaftskritik’ entnommen ist, koennte fast fuer eine im zynischen Sinn ‚blutvolle’ Illustration des Hegel-Wortes von der ‚Raserei der Negation’ stehen.) Jedenfalls treffen sich in dieser Frage die Vertreter der modernen neo- marxistischen Frankfurter Schule mit ihren Kritikern, etwa mit dem Philosophen G. Rohrmoser: ‚Eine Demokratie, die das Element der freien und unrepressiv gefuehrten Diskussion um die Ermittlung der Ziele und Methoden politischer Praxis nicht mehr kennt, waere mit dem Ende der Demokratie identisch.’
Erscheint so die Bedeutung vernuenftiger Kommunikation, als jener ‚kommunikativen Rationalitaet’, fuer unser Gesellschaftssystem noch einmal ausgewiesen, ist ueberdies ihr Stellenwert in jedem Bildungs- und Erziehungsprozess so gut wie gesichert, so ist es umso wichtiger, auf die Risken hinzuweisen, die in diesem Prozess selbstliegen.
Kommunikation kann zum Selbstzweck werden, ‚kaum noch in einem politischen Kontext stehen und in der Tat einer unmittelbaren Triebbefriedigung ihrer Initiatoren, naemlich schlicht der ungehemmten Abfuhr von Agression, dienen’. Bedenklich an solchen eher therapeutischen Prozessen, die durchaus ihren Sinn haben koennen, ist die uneingestandene Flucht in ein Raesonieren ueber die Schlechtigkeit der Gesellschaft, das nicht an ihre Ordnung zu ruehren vermag, weil es die ‚Ernstsituation oeffentlicher Kommunikation’ scheut: ‚Das Ergebnis ist unpolitisch ... - denn der Modus der Entscheidung bleibt davon unberuehrt.’ Bedenklich ist auch, dass weniger oder gar nicht die Kraft des Arguments zaehlt, sondern die Ausdauer und die Geschicklichkeit, auf ein anderes Thema auszuweichen, sodass ein endloser Dialog entsteht, in dem schliesslich die verstummen, denen es ums Argumentieren geht.
Nicht im Schweigen oder Schwaetzen jedoch ist die Alternative, sie waere vielmehr ein Ausdruck fuer das ‚Elend einer gefaehrdeten politischen Kultur’, in der ‚der Dialog nur noch als strategischer Schlagabtausch’ denkbar scheint. Vielmehr muss es darum gehen, ‚durch vernuenftiges Argumentieren zum Konsens zu gelangen’. Das erinnert an das alte Mahnwort buergerlicher Kultur ‚Zuerst denken und dann sprechen’, an den buergerlichen Bildungsprozess, der fuer den Jugendlichen die einsame Lektuere des gedruckten Wortes als Weg zur Individuiserung gewiesen und in der Humboldtschen Formel ‚in Einsamkeit und Freiheit’ seinen Ausdruck gefunden hat.
Der Weg kann nicht zurueck zu dieser Einsamkeit des Denkens fuehren, auch wenn er faktisch einsame Denker im ‚Gespraech der Seele mit sich selbst’ (Platon) den ‚Dialog zu einer potentiellen Argumentationsgemeinschaft zu internalisieren vermag’. Zu klar ist heute die Bedeutung der Kommunikation in einer wirklichen Gemeinschaft fuer die Muendigkeit des Menschen, fuer das Finden seiner Ich-Identitaet, als Schutz vor dem Verlust seiner selbst in der Ich- Einsamkeit - ebenso wie vor dem Verlust in das unreflektierte Normensystem eines Kollektivs. Wenn es aber richtig ist, dass eine Gruppe mehr ist als die Summe ihrer Teile, dann wird auch hier eine Summe von Nullen nicht viel ergeben, zumal dann nicht, wenn die Gruppe ‚jene inhaltlichen Voraussetzungen, die von den Individuen in die Gruppe eingebracht werden aufzuarbeiten’ hat. Und aus der Lektuere ist nach wie vor viel einzubringen nicht zuletzt eine Sprache, die der Differenziertheit der Argumentation nur nuetzlich sein kann. Aber hier muss ich abbrechen, obwohl noch vieles, etwa ueber die Symptome eines gewissen Sprachverlusts zumindest bei Teilen der heutigen Jugend und ueber die politische Bedeutung der Sprache zu sagen waere. Wir leben naemlich ‚nicht mehr in so harmlosen Weltzustaenden, dass wir uns ... metaphysische Dummheiten politisch auch nur einen Tag leisten koennten.’
‚Einladung, deutlich zu leben’, war der Titel einer wichtigen Erzaehlung der jungen oesterreichischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Jugend von heute hat, in einer Weise, die den aelteren nicht immer verstaendlich ist und ihnen manchmal Angst macht, ihr Handeln unter diesen Imperativ gestellt, ohne ihn zu kennen. Sie nimmt die Welt, wie sie ist, nicht gottergeben hin, sie laesst sich nicht mit halben Antworten abfertigen und sie laesst sich nicht auf Zeiten vertroesten, die vielleicht einmal den moralischen Anspruch einloesen werden, den sie heute stellt. Sie ist ungeduldig. Dies allein ist gut. Es ist gut, weil die Autonomie des Menschen, auch des jungen, heute eine Ethik nicht nur rechtfertigt, sondern verlangt, in der die Normen des Handelns nicht unbefragt uebernommen, sondern reflektiert, einem Prozess offener Diskussion unterworfen und auf ihre Verallgemeinerungsfaehigkeit hin ueberprueft werden muessen. Es ist gut, weil dies unserem heutigen Bewusstsein von Freiheit und der Reife unserer Demokratie entspricht.
Es ist auch noch gut, dass dies alles mit Ungeduld geschieht. Es ist deshalb gut, weil diese Ungeduld der Ausdruck eines Engagements ist, Ausdruck einer Begeisterungsfaehigkeit, die den Dichter zu dem wie auch immer zurueckgenommenen Pathos inspiriert hat: ‚Sie ist zu lieben. Sie ist das Salz der Zeit. Sie ist wohl in vielem laecherlich und abstossend. Sie ist verbohrt, diese koestliche Jugend, sie steckt voll fertiger Theoreme, sie ist fanatisch. Sie ist gross. Das behaupten wir kecklich. Ihr Anblick ist gewaltig. Sie steht auf wankendem und weichendem Grund. Aber ueber ihrem Scheitel hat sie die festen Sterne, und sie weiss das.’ Es waere daher vollends gut, wenn sie sich dessen bewusst wuerde, dass man die Sterne, will man sich orientieren, kennen muss. Und dass dies kein Plaedoyer gegen das Gefuehl bedeutet, wohl aber fuer den Geist. Kein Plaedoyer fuer jenes Gescheitsein, das zur Bombe fuehrt, wohl aber eine Warnung vor dem Trugschluss, man koenne eine Welt der Geborgenheit schaffen, indem man auf Intelligenz verzichtet. Wenn unser Jahrhundert eines lehrt, dann dies: Nicht die Stunde des Gefuehls schlaegt, wenn der Geist entschlaeft, sondern die des Ungeists.
Einladung, deutlich zu leben, war der Imperativ, unter den eine junge Nachkriegsgeneration ihr Handeln gestellt hat, die mit dem furchtbarsten Verschleiss an Humanitaet, an Gefuehl und Geist, in diesem Jahrhundert fertig werden musste. Man wird ihn, auf die Gefahr hin, missverstanden zu werden, ergaenzen muessen: um die Einladung, deutlich zu denken.